Leben am Rand der Gesellschaft - soziale Ausgrenzung und Integration durch Arbeit in der neueren deutschen Rechtsgeschichte

11. Jahrestagung, 09. bis 11. Oktober 2009

Arbeit im Schweiße des Angesichts war Folge der ersten Exklusion, über die in einer großen Erzählung berichtet wird: der Vertreibung aus dem Paradies. Heute sind diejenigen von Exklusion bedroht, die keiner Erwerbsarbeit nachgehen. Die öffentliche Aufmerksamkeit richtet sich dabei auf den unteren Rand der Gesellschaft – wenn er denn überhaupt Beachtung findet –, nicht auf diejenigen, die es nicht nötig haben zu arbeiten (aufgrund großer Erbschaften oder Kapitalrenditen).

Wie gehen Gesellschaften in unterschiedlichen Formen des Rechts mit denen um, die am unteren Rand der Gesellschaft leben? „Müßiggang“ galt im Christentum als eine der Todsünden. Aus der europäischen Geschichte kennen wir Bettler, Landstreicher, Obdachlose, völlig Verarmte, Verwahrloste, Arbeitsscheue, die mal strafrechtlich verfolgt, mitunter auch christlicher Fürsorge unterstellt wurden. Mit dem Aufkommen der Lohnarbeit und dem Zwang, seine Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt anzubieten und zu verkaufen, werden Bevölkerungsmassen in den ökonomischen Prozess als abhängige Beschäftigte integriert. Arbeit wird darüber hinaus zum zentralen Ausgangspunkt von staatlicher Steuererhebung und der Einzahlungen in die Sozialversicherungen. Wer sich diesem Mechanismus entzieht, droht aus der Gesellschaft herauszufallen. Das wichtigste Mittel, die Randständigen, Ausgegrenzten, die „Asozialen“ in die Gesellschaft zu integrieren, wird die Arbeit, die Einfügung in den Prozess der Lohnarbeit, aber auch die Zwangsarbeit oder die Einweisung in ein Arbeitshaus, die als strafrechtliche Maßnahme in der Bundesrepublik bis 1973 bestand. In ein Arbeitshaus konnten aufgrund von § 362 Reichsstrafgesetzbuch von 1871 diejenigen eingewiesen werden, die nach § 361 RStGB als Landstreicher, Prostituierte oder Bettler zu Haft verurteilt worden waren oder Kinder zum Betteln verleiteten, wer sich dem Spiel, Trunk oder Müßiggang hingab, so dass er seinen Unterhaltspflichten nicht mehr nachkommen konnte, „wer, wenn er aus öffentlichen Armenmitteln eine Unterstützung empfängt, sich aus Arbeitsscheu weigert, die ihm von der Behörde angewiesene, seinen Kräften angemessene Arbeit zu verrichten“ etc. Diese Regelung fand ihre Fortsetzung in § 249 StGB-DDR („Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten“). Dann konnte auf „Arbeitserziehung“ erkannt werden (§ 42 StGB-DDR).

Die Tagung befasst sich in historischer Perspektive mit den verschiedenen
Formen der mehr oder weniger zwangsweisen Integration von sozialen Randgruppen in den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess durch Arbeit – ausgehend vom 19. Jahrhundert über die Verfolgung von Asozialen und die „Jugendfürsorge“ in der Zeit des Nationalsozialismus, die Kriminalisierung „asozialen Verhaltens“ in der DDR bis zur Entwicklung in der Bundesrepublik. Behandelt werden das Elend der Heimerziehung in der frühen BRD, das erst jetzt mediale Aufmerksamkeit erlangt hat, wie auch neuere Entwicklungen im Bereich des Sozialrechts mit der Forderung, eine „zumutbare“ Arbeit aufzunehmen. Das „soziale Netz“ verspricht, vom gesellschaftlichen Absturz Bedrohte aufzufangen; es ist aber auch Mittel, die Randständigen einzufangen.

Prof. Dr. Martin Kronauer (Fachhochschule für Wirtschaft und
Recht, Berlin)
Arbeit als Institution sozialer Integration und Ausgrenzung

Dr. Beate Althammer (Universität Trier)
Die Bekämpfung von Bettelei und Landstreicherei im 19. Jahrhundert:
Rechtsnormen, Praktiken, Reformdiskurse

Prof. Dr. Wolfgang Ayaß (Universität Kassel)
Arbeitshaus und Strafrecht. Soziale Außenseiter im Visier der
Strafverfolgung 1871-1973

Ralf Oberndörfer (HISTOX-Institut für Geschichtsarbeit und Freie Universität Berlin)
Polizei und Verfolgung von Asozialen im NS-Staat

Manfred Krause (Präsident des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts)
Jugendwohlfahrt im Nationalsozialismus

Prof. Dr. Jörg Arnold (Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht Freiburg)
Kriminalisierung „asozialen Verhaltens“ durch § 249 des Strafgesetzbuches der DDR

Prof. Dr. Inga Markovits (University of Texas, Austin)
Asoziale in einer Erziehungsdiktatur

Prof. Dr. Christian Schrapper (Universität Koblenz-Landau)
Das Elend der Heimerziehung in der frühen Bundesrepublik

Prof. Dr. Dr. h.c. Eberhard Eichenhofer (Friedrich-Schiller-
Universität Jena)
Fördern und Fordern und die Menschenrechte